Terra Incognita – Das unbekannte Paris
Jakob Gautel
Katalogtext: Retour de Paris/Front de Seine

 

Wer an Pariser Architektur denkt, hat natürlich sofort die ikonenhaften Monumente der Stadt im Kopf, den Eiffelturm, Notre-Dame, den Arc de Triomphe, vielleicht auch einige der wenigen modernen Gebäude der Stadt wie das Centre Georges Pompidou oder die Louvre-Pyramide. Vor allem denkt man aber an die typische Architektur des 19. Jahrhunderts mit den hohen Zinkdächern, den Balkons und der die Gesellschaftspyramide widerspiegelnden Etagenabfolge, von der vornehmen Bel-Etage bis zu den Mädchenkammern unterm Dach. Im Gegensatz zu anderen europäischen Großstädten hat Paris das Glück gehabt, keine Kriegzerstörungen erlitten zu haben, und zeigt eine erstaunlich homogene Stadtstruktur, als deren letzte große Umformung die im 19. Jahrhundert zu Boulevards und Avenuen hergerichteten Schneisen des Baron Haussmann stehen. Seitdem hat sich wenig verändert. Erst in den letzten Jahren, unter dem zunehmenden Druck der Immobilienpreise, wurden neue Flächen erschlossen, zum Beispiel östlich der Gare d'Austerlitz über den Gleisen.

Im Grunde ist und bleibt Paris aber immer noch die "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" Walter Benjamins, und stellt als solche eine große Touristenattraktion dar : Jedes Jahr besuchen 27 Millionen (davon 18 Millionen aus dem Ausland) die Stadt, mehr als 12 Mal die Einwohnerzahl (Quelle : Mairie de Paris).


Paris : zu einer Museumsstadt für Touristen erstarrt ?

Während ihres einjährigen Paris-Aufenthalts als Stipendiatin in der Cité des Arts hat die Fotografin Eva-Maria Lopez sich für einen anderen Aspekt der Stadt interessiert : die Nachkriegsarchitektur und da vor allem die Utopie der typisch französischen « Dalle »- Architektur, die in den 60er, 70er Jahren das Verkehrsproblem zu lösen versuchte, indem Autos in den Untergrund verbannt und Wohntürme und Blocks auf Betonsockel gebaut wurden. Sie hat systematisch die entlegenen, absolut untouristischen Viertel der Stadt erkundet (Olympiades, Front de Seine und Orgues de Flandre), hat den halb vergessenen, von Oscar Niemeyer 1965 erbauten futuristischen Sitz des PCF (der gleichfalls "halb vergessenenen" kommunistischen Partei Frankreichs) besichtigt, aber auch den schönen Park Albert Kahn mit seinen spiegelnden Gewächshäusern, oder die eher ungeliebten, strengen Türme der Nationalbibliothek François Mitterand.

Ihrem präzisen Blick für Strukturen und Kontraste merkt man eine gewisse Verwandschaft zur Bauhaus-Fotografie und der Sachlichkeit der Düsseldorfer Schule an, aber die Verspieltheit der Verschachtelungen, der Spiegelungen, des Übereinandertürmens und Ineinanderspielens, des Vermischens von Alt und Neu, Innen und Aussen bringt eine ganz neue Poesie und eine surreale Vielschichtigkeit in ihre Bilder. Die Bilder sind « en passant » gemacht, wie Eva-Maria es treffend formuliert (und man denkt erneut an Walter Benjamin und seine Figur des Städters als "Flaneur"): ohne großen technischen Aufwand, ohne Stativ oder Superobjektiv, und ohne jegliche nachträgliche Retusche. Der erste Blickwinkel, der erste Eindruck ist, was zählt. Oft treffen sich Kontraste oder Analogien in ein und demselben Bild, manchmal aber auch in der Gegenüberstellung zweier Bilder: so zeigen die eintönigen Fassaden der Glastürme der Nationalbibliothek erstaunliche strukturelle Parallelen zum auf demselben Erkundungsgang fotografierten Fassade am Supermarkt der nahen Chinatown, die von Kleinanzeigen für Massagen überbordet.

Als ironisches Kommentar zum eingangs erwähnten Aspekt von Paris als touristische Museumsstadt schließlich eine andere Foto-Serie: die auf den gefälschten Hermes-Schals ausgebreiteten Eiffelturm-Andenken Made in China der fliegenden (und oft vor der Polizei fliehenden) Händler aus den ehemaligen französischen Kolonien in Afrika – Quintessenz der absurden Schicksals-Verquirlung, wie sie nur unsere hochtourige Globalisierung zustandebringen konnte.

Parallel zu ihren fotografischen Streifzügen durch Paris hat Eva-Maria Pläne interpretiert: zum Beispiel der ausgeschnittene Plan, der das ihr bekannte Paris zeigt und das unbekannte ausblendet, oder der Metroplan, auf dem sie der Geschichte der Stationsnamen auf den Grund geht.

Kurz und gut: die "Terra incognita" des unbekannten Paris ist durch Eva-Maria Lopez, zu unserer Bereicherung und unserem großen Vergnügen, etwas mehr erschlossen worden!


Jakob Gautel: http://www.gautel.net